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Gespeichert von Sylviane Amiet am Mo., 09.10.2023 - 17:24
Tout Public

REMFA vom 13.-17. Februar 2023 in Montevideo

***

Vortrag von Olivier Francomme (teilweise aus meinem Buch entnommen1)

16. Februar 2023

«Die intellektuelle Eigenständigkeit der École Moderne2»

Persönliche Vorstellung:

Ich war zunächst Grundschullehrer und dann bis 2001 Lehrer an verschiedenen Schulen. Und von

Beginn meines Lehramtsstudiums an war ich Teil der Freinet-Bewegung, in der ich im Laufe der

Jahre verschiedene Aufgaben wahrgenommen habe. Während dieser Zeit studierte ich bis zur Promotion,

deren Hauptgebiet Kolumbien und seine indigenen und schwarzen Gemeinschaften waren.

Das war der Beginn eines Abenteuers (einer Liebesgeschichte?) mit dem südamerikanischen

Kontinent!

Dann wurde ich Lehrer für Erziehungswissenschaften an der Universität Picardie, wo ich mein Studium

fortsetzte und eine Habilitation zur Leitung von Forschungsprojekten einreichte, deren

Thema die Bewegung der École Moderne [Freinetpädagogik] betraf. Heute bilde ich zukünftige

Lehrerinnen an Schulen aus. Zusammen mit Pierre JL haben wir sogar das Diplom für Lehrer von

immersiven zweisprachigen Klassen geschaffen.

Heute bin ich immer noch Dozent an der Universität Picardie, aber ich bin Forscher an der Universität

Paris 8, im EXPERICE-Labor, wo ich meine ersten Doktorarbeiten betreue. Seit 20 Jahren führe

ich praxisorientierte Forschungen durch, die darauf abzielen, kooperative Teams vom Kindergarten

bis zur Universität zu unterstützen.

Freinet und die wissenschaftliche Forschung (Ein bisschen Geschichte!)

Zu den zahlreichen emanzipatorischen Dimensionen der Pädagogik der École Moderne gehört

auch, dass sie sich einen Platz sucht im Rahmen der Erziehungswissenschaften: Die Freinet-Lehrer

denken selbstständig, sie brauchen nicht immer andere, die für sie denken!

Seit Beginn seiner Karriere und seit seinen ersten Artikeln im Jahr 19263 drückt Célestin Freinet

aus, «dass es die Suche nach Neuem ist, was ihn in Bewegung setzt.» Was C. Freinet am meisten

charakterisiert, sind seine Lektüre und seine Referenzen: Denker und Intellektuelle aus der ganzen

Welt haben sein Denken geprägt. Im Gegensatz zu vielen anderen Pädagogen liest Freinet viel und

spricht von seiner Lektüre, indem er zahlreiche Autoren zitiert, deren Ideen er teilt oder auch

nicht. Freinet schrieb 23 Bücher und über 1700 Artikel! Außerdem reist er, besucht Europa, bis hin

zur UdSSR, er geht an die Orte, wo Neues in Gang kommt!

In l'Éducateur [franz. Freinetzeitschrift] vom November 1945 positioniert C. Freinet die Bewegung

eindeutig in einer Haltung der ständigen Forschung im wissenschaftlichen Sinne:

Aber halten Sie diese Praktiken und Ideen niemals für endgültig, stellen Sie keine neuen Tabus

auf und engen Sie neue Wege nicht mit Routinen ein. Der Skandal besteht nicht darin, dass Pä-

1 «Les Chercheurs Collectifs Coopératifs et l'École Moderne : perspectives», (2019).

2 Eigentlicher Name der Freinetpädagogik [Anmerkung des Übersetzers]

3 Auch in seinem Buch «L'imprimerie à l'école» zeigt Freinet, dass er ständig auf der Suche ist und die methodischen

Elemente einer echten Forschung (Hypothesen, Bedingungen, Modalitäten, Analyse, Wiedergabe) umsetzen kann, wobei

er sogar eine eigene Haltung gegenüber den bestehenden Theorien einnimmt.

dagogen die Methoden von Madame Montessory, Ferrière, Decroly, Piaget, Wasburne, Dottrens

oder Freinet kritisieren und zu verbessern suchen. Der erzieherische Skandal besteht darin,

dass es wieder "Gläubige" gibt, die genau dort, wo diese Erzieher ihr Werk hinterlassen, eifersüchtig

Kapellen errichten, mit neuen Gesetzestafeln und neuen Vorschriften, und man nicht

versteht, dass das Denken von Ferrière, Piaget, Washburne, Dottrens oder Freinet im Wesentlichen

beweglich ist, dass es heute nicht mehr das ist, was es vor zehn Jahren war, und dass in

zehn Jahren wieder neue Formen gefunden werden ...

C. Freinet nimmt bereits deutlich vorweg, was fünfzehn Jahre später geschehen wird, als er das

Institut coopératif de l'École Moderne ICEM [franz. Freinetbewegung] gründet. Bereits 1954 positionierte

er sich und seine Bewegung4: «Wir sind Wissenschaftler der permanenten Suche und des

unermüdlichen Experimentierens. Wir gehen ohne jegliche Voreingenommenheit an den Start, außer

der, dass wir versuchen, klar zu sehen und rational zu handeln».

Formen der intellektuellen Eigenständigkeit der École Moderne

Die Einbettung der Bewegung der École Moderne in den Raum der Erziehungswissenschaften hat

mehrere Dimensionen: wissenschaftlich, politisch, sozial, kulturell... Wir können einige Dimensionen

betrachten:

1 – die Wiederaneignung von Wissen: Freinet hat eine marxistische Sicht des Wissens und seiner

Produktion.

Für Gramsci erfolgt der Aufstieg des Sozialismus vorrangig weder durch den Putsch noch durch

die direkte Konfrontation, sondern durch diesen Kulturkampf gegen die Intellektuellen der herrschenden

Klasse.

Für diesen gab es eine Wiederaneignung des Wissens, die durch bestimmte Klassen erfolgen

musste, um deren Herrschaft zu verhindern. Diese Wiederaneignung erfolgte durch die Entstehung

eines "organischen Intellektuellen", dessen Funktion sowohl technisch als auch politisch

war.

Zu Lebzeiten fungierte Freinet auf seine Weise als Schnittstelle zwischen seiner Bewegung und den

wissenschaftlichen Kreisen. Diese Haltung hatte einen doppelten Zweck:

- Zum einen ging es darum, seinen intellektuellen Weg, der zweifellos sehr tiefgründig, aber

auch sehr marginal war, «zu schützen».

- Andererseits sollten aber auch die Risiken der Vereinnahmung, Verwässerung und Assimilation

vermieden werden, was nur durch eine gewisse Isolation möglich war.

Nachdem die wissenschaftliche Struktur eingerichtet war (ICEM, 1947), sollten C. und E. Freinet

eine wichtige Forderung stellen, nämlich den Status von «forschenden Praktikern» für Lehrer:

Élise Freinet schreibt über Freinet5: "Der Begriff Praktiker, den man seinem Namen anhängt,

ist für ihn ein Adelstitel. Denn er weiß, dass mit einer soliden, gut geführten und kommunikativen

Praxis die großen Dinge beginnen. Er ist ein Mann des Volkes und weiß, dass man zuerst

wissen muss, wie man etwas tut, bevor man etwas sagen kann, und dass die Notwendigkeit

der Theorie eine natürliche Folge des Know-hows ist, wobei die Theorie ein erleuchtetes Ergebnis

des Know-hows ist: Von hier aus kann man es noch besser machen und man wird eine neue

4 Im L’éducateur, September 1954, Edition CEL

5 Freinet É., (1977), Kapitel VII, S. 176

Stufe der Effizienz und des Wissens erreichen, die geeignet ist, die Realität erneut zu verändern...".

Aus Bescheidenheit oder aus Usurpation tragen viele wissenschaftliche Artikel nicht die Namen ihrer

Autoren, ihrer Akteure, obwohl es sehr viele von ihnen gibt! Ich habe eine Reihe von ihnen in

meinem Buch erwähnt, um die wissenschaftliche Produktion an ihre Autoren zurückzugeben! Und

genau das tue ich in den praxisorientierten Forschungen, die ich überall, vom Kindergarten bis zur

Universität, durchführe.

2 – wissenschaftliche Zusammenarbeit: Die Freinet-Pädagogik, eine Anti-Doktrin, ist ein echtes

Forschungsinstitut, das aber nicht von der Welt isoliert ist.

Seit Beginn seiner Karriere hat sich Freinet immer für Artikel interessiert, die sich wissenschaftlich

mit Erziehung befassen, und hat immer versucht, die Arbeiten der Bildungsforschung mit seiner

Praxis zu vergleichen, um seine Grundlagen zu untermauern: zur Gestaltung der Arbeitsmittel, die

den Klassen zur Verfügung gestellt werden, zur Erstellung von Dokumentationen (deren Ergebnisse

manchmal sogar übernommen werden), zu den Lernprozessen...

Mit der Gründung des Institut coopératif de l'École Moderne ICEM wollte Célestin Freinet eine Einrichtung

zur permanenten Erforschung der Bildung im weitesten Sinne schaffen (d. h. über den engen

Rahmen der Schule hinaus). Freinet wird die (schrittweise) Konfrontation mit Forschern strukturieren

und organisieren, aber nicht nur. (Célestin Freinet kooperierte auch mit großen Schulen

und Organisationen. Dazu gehörten die UNESCO, die École de Sèvres, Lehrerseminarien, Ingenieurschulen...).

Er wird auch mit zahlreichen Künstlern kooperieren! Dies ist auch eine Originalität der

Bewegung, die sich zweifellos auf seine Kreativität ausgewirkt hat! (Eine Art Freizügigkeit gegenüber

dem etablierten Wissen!).

Élise Freinet betont in ihrem Buch über den Lebensweg von C. Freinet6 erneut die Suche nach einem

wissenschaftlichen Ansatz in der Praxis von C. Freinet und seiner Bewegung.

Auf dem Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis (zur Einleitung des Kapitels)

Wenn die Tatsache, auf die man stößt, im Gegensatz zu einer herrschenden Theorie steht, muss

man die Tatsache akzeptieren und die Theorie aufgeben, auch wenn diese, von großen Namen

unterstützt, allgemein angenommen wird. Claude Bernard.

Um die Komplexität noch etwas zu erhöhen, möchte ich hinzufügen, dass die Bewegung der École

Moderne eine Denkbewegung ist, die mehrere Gruppen und Tendenzen umfasst, die jedoch alle

eine gemeinsame Ethik teilen, nämlich die der Zusammenarbeit (die der Erziehbarkeit, die der Achtung

der Rechte des Kindes...). Ich habe eine Reihe dieser Gruppen erfasst, die an den Wegen, die

sie einschlagen, erkennbar sind.

Schlussfolgerungen:

Freinet wollte der Bewegung nie seinen Namen geben, erst nach seinem Tod wurde Freinet-Pädagogik

hinzugefügt! Die Bewegung der École Moderne hat den Tod ihres Gründers gerade deshalb

überlebt, weil sie eine dynamische Bewegung ist, die jeden Tag von jeder Lehrkraft, jeder Klasse ...

durch ihr Engagement bereichert wird. Die Klasse ist ein legitimer Ort als wissenschaftliches Labor

der Erziehungswissenschaften.

6 Freinet É., (1977), Kapitel VII, S. 173

Wir sind eine Bewegung, die in der Lage ist, selbstständig zu denken, und offen für jede faire Konfrontation

ist, unter Einhaltung der Ethik der Kooperation. Niemand kann uns das Denken verbieten!

Das Wissen, das durch unsere Arbeit, unsere pädagogischen Experimente und unsere wissenschaftliche

Zusammenarbeit produziert wird, ermöglicht es uns, durch Kooperation akademische

Anerkennung zu erlangen.

Bibliographie :

- Acker Victor, (2006), Célestin Freinet (1896-1966) : l’histoire d’un jeune intellectuel., éditions

L’Harmattan, Paris, 228p.

- Francomme Olivier, (2019), Les Chercheurs Collectifs Coopératifs et l’École Moderne :

perspectives, éditions L’Harmattan, collection Cognition et formation, Paris, 233p.

- Freinet Célestin, (1926), L’imprimerie à l’école, Bulletin mensuel de la Coopérative d'entraide

pédagogique, PEMF, remis à jour en 1937.

- Freinet Elise, (1977), L'itinéraire de Célestin Freinet. La libre expression dans la Pédagogie

Freinet, Paris, éd. Payot, la petite bibliothèque, 198 p..

- Gramsci Antonio, L'educazione tradita: criteri per una diversa valutazione complessiva dei

"Quaderni del carcere" di A. Gramsci [L'éducation trahie: critères pour une nouvelle évaluation

globale des "Cahiers de prison" d'Antonio Gramsci], réédition 1985.

Olivier Francomme (links) zusammen mit Glaucia de Melo Ferreira, FIMEM-Präsidentin,

und ihrem Mann

Übersetzung: www.deepl.com, Andi Honegger & Peter Steiger